Zugegeben, am Ende des dreistündigen Degustationsmarathons hat sich meine frisch von einem Wespenstich genesene Zunge doch ein wenig pelzig angefühlt. Und auch die Zahnhälse zeigten langsam, dass mein Weinfimmel ihnen langsam auf den Nerv geht – der Tribut der Tannine. Aber es hat sich gelohnt! «Il Viso del Vino» heisst das vom Fachverband Ticinowine organisierte Stelldichein, das am 2. September im Kongresszentrum Lugano zelebriert wurde.

Über 60 Tessiner Winzer präsentierten ihre Jahrgänge 2011, darunter grosse Namen wie Claudio Tamborini, (noch) amtierender Schweizer Winzer des Jahres oder Meinrad Perler, Winzer des Jahres 2010. Einige Tropfen waren so frisch abgefüllt, dass die Flaschen von Hand beschriftet werden mussten. Die verkosteten Rotweine – hauptsächlich Merlots – lassen sich grob gesagt in drei Kategorien einteilen: a) die fruchtig-frischen, im Stahltank ausgebauten Tropfen mit eher roter Frucht; b) die würzig-weichen, im Barrique gereiften Tropfen mit intensiven Noten von Waldboden, Leder, Pflaume und Lakritz und dezenten schwarzen Früchten sowie c) opulente Granaten mit überreifer schwarzer Frucht und vollem Körper. Mein Weinherz schlägt eindeutig für die mittlere Kategorie. Jetzt aber zu meinen chronologisch aufgeführten Degu-Notizen. Wir beginnen am Stand der Agriloro SA von Meinrad Perler.

Agriloro SA, Genestrerio
Riserva Tenimento La Prella (Ticino DOC Merlot 2011): Kirsche und frische Himbeere in der Nase; fruchtig frisch auch im Gaumen: Brombeeren, schwarze Johannisbeeren, leichte Cassis-Noten. Angenehm, frisch und mit mittlerem Körper.
Agriloro SA, Riserva Tenimento de’ll Ör (Ticino DOC Merlot): Hui! Intensive schwarzfruchtige Nase. Auch hier: Brom- und Johannisbeeren und Cassis – aber dichter und ausgeprägter. Dazu Pflaumen, Tabak, Waldboden und Unterlaub. Dennoch frisch und fruchtig um Gaumen. Toll. Und rar.
Agriloro SA, Riserva Sottobosco (Rosso del Ticino DOC): Eine Assemblage aus Merlot (75%), Cabernet Sauvignon (12%), Gamaret (7%) und Cabernet Franc (6%). Der Wein präsentiert sich zurückhaltender, zunächst eher auf der roten Seite, dann gesellen sich auch Cassis- und Brombeer-Nuancen dazu. Anklänge von Tabak und Leder. Wunderbar rund und trinkig im Gaumen: Zuerst macht sich die Frucht breit, dann die Säure und zum Schluss folgen die noch etwas kernigen Tannine. Dennoch schon sehr angenem zu trinken.

Tenuta Bally & von Teufenstein SA, Vezia
Cresperino (Ticino DOC Merlot): Bukett von schwarzer Kirsche, Brombeere, dezente Holznoten. Angenehm im Gaumen: Knackige Säure, präsenter Alkohol, frische Frucht.
Tre Api (Ticino DOC Merlot Riserva): Wow! Sehr ledrig in Bukett, dazu Tabak, Holz und Pflaume, die Frucht hält sich eher im Hintergrund. Nice! Im Gaumen dann Cassis und Pflaumen, danach angenehme Tannine und ein laaanger Abgang. Vollmundig, gut.
Riserva Ernesto (Rosso del Ticino DOC): Man merkt: Hier ist eine Assemblage im Glas. Sie riecht anders als ihre Merlot-Halbbrüder, was an den 25 % Cabernet Sauvignon liegt. Die Frucht ist frischer und duftet nach Him- und Brombeere. Sehr knackig im Mund, präsente Säure.
Topazio (Rosso del Ticino DOC): Ist mit 75% Cabernet Sauvignon und 25% Merlot quasi die Umkehrung des Ernesto. Zurückhaltende Nase, Kirsche und Cassis im Gaumen. Noch etwas grün und ungestüm. Ein junger Wilder, der mir in ein paar Jahren gerne noch einmal begegnen darf.

Azienda Agricola Avra-Caspiera Sagl, Castel San Pietro
Colle d’Avra Barrique (Ticino DOC Cabernet Sauvignon): Kirsche, Brombeere und grüne Paprika in der Nase; Cassis im Gaumen. Viel Säure und ausgeprägte Tannine – zusammen mit dem volumenreichen Körper ergibt das eine gute Balance.
Colle d’Avra Barrique (Ticino DOC Merlot Riserva): Relativ intensives Bukett mit Brombeere, Pflaume und Leder. Schon angenehm reif wirkende Frucht im Gaumen, samtige Tannine, langer Abgang. Schmeckt, wie es klingt: gut.

Tamborini Carlo Eredi SA, Lamone
Vallombrosa (Ticino DOC Merlot): Eindeutig aus dem Stahltank: rotfruchtig, aber auch Pflaume. Frisch und fruchtig im Gaumen. Nicht so wuchtig wie die letzten paar Tropfen. Gut, trinkig.
SanZeno Riserva (Ticino DOC Merlot): Auch sehr fruchtig. Nur 15 Prozent der verwendeten Trauben haben das Holzfass von Innen gesehen. Im Bukett: reife Erdbeere (irgendwie ungewöhnlich) und Kirsche. Rund und angenehm im Gaumen.
SanZeno Costamagna (Ticino DOC Merlot): Intensive Nase von Pflaume und Tabak. Ungemein dicht im Mund. Cassis, schwarze Früchte; Tannine sind körnig aber angenehm, der Abgang ist lang. Gut!
Comano (Ticino DOC Merlot): Tabak, Erde, Pflaume, sonst dezentere Frucht. Vollmundig mit lang anhaltendem Abgang. So mag ichs.

Fattoria Moncucchetto, Lugano
L’Arco (Ticino DOC Merlot): Schwazfruchtige Nase, kein Holz auszumachen. Cassis und Brombeere in Gaumen. Angenehme Frucht und nicht zu vollmundig. Irgendwer schweisselt – der Marathon scheint seine ersten Opfer zu fordern. Ich erhole meine Nase mit dem…
L’Arco (Rosso del Ticino DOC Merlot): Betörende Nase von Tabak, Leder und Pflaume, aber auch schwarze Frucht und Würze. Im Gaumen genauso heterogen und ausgewogen. Nicht zu wuchtig, endloser Abgang. Sensationell! Einer meiner Favoriten bis jetzt.
Moncucchetto (Ticino DOC Merlot): Weil der 2011er Riserva noch im Fass schlummert, serviert Kellermeisterin Cristina ­Monico (über die ich hier einmal geschrieben habe) den «normalen» Moncucchetto. Dezentere Nase als sein Vorgänger. Tabak, Pflaume, Cassis. Sehr geschmeidig im Mund, fruchtig mit erdigem Unterton. Ausgewogen – man spürt die 18 Monate im Eichenholzfass.

Daniel Huber, Termine
Fustoquattro (Svizzera Italiana IGT): Brombeere, fruchtig, vollmundig. Aber irgendwie…naja.
Costera Riserva (Ticino DOC Merlot): Cassis und Brombeere in Konfiform in dr Nase, ebenso Tabak- und Ledernoten. Ausgewogen und heterogen im Mund. Voller Körper, mittlerer Abgang. Solid.
Montagna Magica (Ticino DOC Merlot): Tabak, Pflaume, Holz, lecker. Viel Cassis und Pflaume bezirzen den Gaumen. Gefällt. Dieser magische Berg wird im Gegensatz zum «Fustoquattro» wieder einmal beklettert.

E+F Klausener, Purasca
Belcantonissimo (Svizzera Italiana IGT): Ein klassischer Merlot. In der Nase eine Wucht! Tabak, Leder, Erde, reife Früchte. Herb im Gaumen, vollundig, harmoniert gut mit der knackige Säure. Fresh!
Tramonto Rosso (Svizzera Italiana IGT): Ähnlich betörende Nase, etwas erdiger. Und etwas fruchtiger auf der Zunge. Ebenfalls mit knackigem Zusammenspiel im Mund.
Rosso di Sera (Svizzera Italiana IGT): Tabak- und Ledernase, dazu eine sehr reife Frucht. Dicht in Mund. Fruchtig und mit präsenter Säure. Brombeere, Cassis, dezente grüne Note.

Adriano Kaufmann, Beride
Il Rubino (Svizzera Italiana IGT): Erdiges bukett, leder, tabak. Sehr subtil um Gaumen – vor allem im Vergleich zu den anderen Weinen drumherum. Angenehm!
Pio della Rocca (Svizzera Italiana IGT): Zauberhaftes Zusammenspiel von reifen Früchten, Tabak, Leder, Erde. Noch einmal: Ich liebe diese Kombi! Intensive Frucht im Mund, voller Körper, angenehme Tannine.

Vinicola Carlevaro di Chiodi Ascona SA, Ascona
Murata (Ticino DOC Merlot VITI): Eher zurückhaltende Nase, auf der fruchtigen Seite. Im Gaumen herb mit ausgeprägter Säure. Schwarzfruchtig. Mittelfeld.
Carmagnola (Ticino DOC Merlot): Reiffruchtige, vielschichtige Nase mit Tabak und Erde. Fruchtig, wuchtig und mit ausgeprägten Barrique-Noten im Maul.
Ampelio (Ticino DOC Merlot): Mein freund der Ampelio! Erdig, fruchtige Nase. Ebenso im Gaumen. Run, gut und mit vollem Körper. So gut wie ich ihn Erinnerung habe.

Chiodi Ascona SA, Ascona
Ultima Goccia (Ticino DOC Merlot): Intensive Frucht und ein Merlot-Bukett, wie ich es liebe. Aha, eine Goldmedaille. Fast zu fruchtig im Mund. Aber gut.
Rompidée (Ticino DOC Merlot): Hoho, der Rompidee – alter Ideen-Zerbrecher. Das Trio Infernale von Erde, Tabak und Pflaume in der Nase. Herrlich rund, dicht und ausgewogen im Gaumen. Dieser Wein ist und bleibt eine Wucht!

Tenuta Castello di Morcote, Vico Morcote
Castello di Morcote (Ticino DOC Merlot): Und wieder – na, ratet mal – Erde, Tabak und Pflaume. Herb und dicht im Mund. Grüner Unterton, körnige Tannine. Die Flaschenlagerung wird ihm sicher nicht schaden.

Fratelli Corti SA, Balerna
Salorino (Rosso del Ticino DOC): Schwarzfruchtiges Bukett von mittlerer Intensität. Vollmundig und fruchtig. Ganz ok, mehr nicht.
Leneo (Ticino DOC Merlot Riserva): Schüchtern in der Nase, eher fruchtig. Vollmundig und fruchtig wie sein Vorgänger Salorino. Cassis, Brombeeren, die Barrique-Noten halten sich eher im Hintergrund.

Tenuta Agricola Luigina SA, Stabio
Gemma dell’Est (Ticino DOC Merlot): Schöne Etikette! Intensive Nase von Cassis, Brombeere, dezente Noten von Tabak und Holz. Betörend dicht im Mund, sehr reife Frucht, voller Körper und ein laaanger, warmer Abgang. Fast schon zarte Tannine, das Holz subtil im Hintergrund. Sehr fein, mein Liebling unter den fruchtigen Merlots.

Zwischenhalt: Die Toilette im Kongresszentrum stink bestialisch! Wie in einem Drittweltland. Arme Weinnasen.

Fratelli Meroni Sagl, Biasca
Granato (Ticino DOC Merlot): Sehr interssantes Bukett. Dezente, fast inexistente Frucht. Oder liegt das an meiner Erkältung? Uiuiui, sehr rabiate Säure im Gaumen, dazu Fruchtig und pfeffrig. Nicht mein Ding. Vielleicht, nach ein paar Jahren Lagerung. Ich habe langsam das Gefühl, mein Zahnfleisch wir zersetzt. Liegts am unkonventionellen Granato oder ist das die Folge des Degu-Marathons?
Der Biasca (Ticino DOC Merlot) wird nicht degustiert. Der Winzer (?) am Stand redet mit zwei jungen Ticinesi und ignoriert mich hartnäckig. Na dann, wenn er es nicht nötig hat…selber schuld. Es bleibt ein saurer Nachgeschmack.

Azienda Vitivinicola Pelossi & Co., Pazzallo
Sottoceneri (Ticino DOC Merlot): Reiffruchtig und würzig in der Nase. Wild und ungestüm im Gaumen – wie gewisse Terroirs im Sottoceneri. Dazu Brombeere und Cassis in der Klappe.
Lamone Tenuta Colle S. Zeno Riserva (Ticino DOC Merlot): Ein Standbesucher füllt meinen Kelch weil auch hier inzwischen munter geplappert wird. Sehr aufmerksam. Mein langsam müdes Riechorgan registriert Altbekanntes: Erde, Leder, schwarze Beeren und Würze. Herrlich im Mund, reife Merlot-Früchte, voller Körper, mittlerer Abgang. Etwas zu opulent, aber ok.
Agra Riserva (Ticino DOC Merlot): Verhalteneres Bukett von Holz und schwarzer Frucht. Sehr angenehm und ausgewogen im Gaumen. Auch einer der tollen fruchtigen Merlots mit dennoch markanten Barriquenoten – aber: weniger Leder, Tabak etc. und viel harmonischer als dir Granate zuvor. Eine tolle Überraschung – dank dem grossen Kontrast zwischen Understatement in der Nase und fruchtiger Eleganz im Mund.

Cantina Monti, Cademario
Besuch beim sympatischen Mann mit den lustigen Hüten und den steilen Rebhängen, auf denen rare und gute Tropfen gedeiehen.
Rovere (Ticino DOC Merlot): Interessantes, frischfruchtiges Bukett. Intensive schwarze Frucht und voller Körper im Mund. Kein Merlot? Doch!
Malcantone – Rosso dei Ronchi (Rosso del Ticino DOC). Eine Assemblage. Der Duft von reifen Brombeeren und Cassis strömt aus dem Glas. Wilde Säure und Tannine im Mund. Rrrraw – das ist toll so!
Monti – Il Canto della Terra (Ticino DOC Merlot): Zurückhaltend in der Nase, dezente reife Beeren. Monti mag runde Weine, erklärt er. Nicht hart, eckig und aggressiv. «Wie schöne frauen.» Ja, philosophen sind sie, die Montis. Und tatsächlich: Der Monti ist sehr rund im Mund. Fruchtig, würzig mit einem sanften ledernen Peitschenhieb. Sehr gut – diese Frau würde ich heiraten.

Tenuta San Giorgio, Cassina d’Agno
Zum Abschluss gibts ausnahmsweise einen Weissen. Der Raggio di Sole ist ein wunderbar spritziger Sauvignon Blanc mit Zitrus, Grapefruit, Stachelbeeren und mineralischen Noten in Nase und Gaumen. Perfekt, um wieder wacher zu werden – ist schliesslich erst 1 Uhr mittags.

Geschafft! 41 Weine von 17 verschiedenen Produzenten. Alle degustiert – und wieder ausgespuckt – schliesslich gings wieder zurück nach Basel zur Bandprobe. Ob meine fusslige Trink-Luke dann noch zu gebrauchen ist? Meine violettblau verfärbten Zahnhälse sind jedenfalls am Anschlag ob all der wundervollen Reize. Merlot-Massaker, Tannin-Terror…egal wie ich das nenne, es war wunderbar! Viele Eindrücke, die verarbeitet werden wollen.

Ich habe jedenfalls gemerkt, dass ich an meine Grenzen gestossen bin – gegen Ende habe ich stets die gleichen Aromen ausgemacht und bin den mir bereits bekannten Duftmarken gefolgt. Dabei wusste ich eigentlich, dass da noch mehr zu holen gewesen wäre: Kirsch, Schokolade, Pfeffer – und so weiter. Das Weinuniversum ist unerschöpflich und es gibt noch viel zu lernen entdecken. Ich kehrte jedenfalls einmal mehr mit einer gehörigen Portion Tessin im Gaumen zurück ans Rheinknie – und liess abermal ein Stück meines Herzens in meinem Schweizer Merlot-Mekka.

Da es mein erster «Viso del Vino» war, kann ich den Jahrgang 2011 nicht wirklich mit seinen Vorgängern vergleichen. Was ich ins Glas bekam, gefiel mir jedenfalls grösstenteils sehr gut. Gemäss Urs Mäder von der Cantina dell’Orso in Ascona – mein Türöffner zur Tessiner Weinwelt sozusagen – gibt es einen homogenen, guten Jahrgang ohne grössere Differenzen zwischen Sopra- und Sottoceneri. An der Spitze stehen die Top-Tropfen langsam an, während es im Mittelfeld viel Bewegung gibt – vor allem nach oben. Es düfte ein Jahrgang mit grosser Harmonie werden, gut für die Gastronomie.

Was ich an diesem Anlass noch gelernt habe? Zum Beispiel, dass ein als Tessiner Merlot deklarierter Wein bis zu zehn Prozent anderer Sorten beinhalten darf. Der Soundtrack dieses wunderbaren Weintrips lieferte übrigens Asher Roth mit seinem Free-Mixtape «The Greenhouse Effect Vol. 2». Einer meiner Lieblings-Mcees aus den Staaten. Nicht nur, weil er auch gerne über gutes Essen rappt.

Arrivederci!